Noch deutlicher als an ihren Worten erkennt man rechtspopulistisch dominierte Regierungen an ihren Taten. Zum Beispiel am Abbau der Gewaltenteilung: Gängelung von Gerichten und Staatsanwaltschaften (zum Beispiel Ungarn, Türkei, USA und bis vor kurzem Polen) und Umgehung der Parlamente durch Regieren mit Verordnungen und Erlassen (zum Beispiel in Italien seit der Ära Berlusconi, neu auch die Schweiz seit der Ära Rösti).
Ebenfalls ein Zeichen respektlosen Durchregierens ist die Verletzung der rechtsstaatlichen Regel, wonach neue Vorschriften nicht rückwirkend angewendet werden dürfen. Zwei Beispiele:
1. Abschaffung der lebenslangen Witwenrente in der Schweiz
Bis jetzt kennt die Schweiz eine vergleichsweise grosszügige Regelung für die Fortsetzung von Renten zugunsten der hinterbliebenen Ehefrauen. Damit wurde dem bürgerlichen Familienmodell Rechnung getragen, nach dem die Frau dem Ehemann den Rücken frei hält, sich also zuhause um alles kümmert. Darum haben Witwen, auch kinderlose oder geschiedene, bisher einen lebenslangen Anspruch auf 80 Prozent der AHV-Rente ihres verstorbenen Ehemanns.
Umgekehrt erhielten bisher Witwer eine Hinterbliebenenrente nur bis zur Volljährigkeit des jüngsten Kindes. Auf Klage eines Witwers stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Jahr 2022 eine Ungleichbehandlung der Geschlechter fest. Daraufhin legte eine Übergangsregelung fest, dass auch Witwer mit Kindern eine lebenslange Rente erhalten, bis das Rentensystem reformiert werde und nicht mehr der «traditionellen Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen» folge. Bereits 2004 hatte der Bundesrat im Rahmen der 11. AHV-Revision vorgeschlagen, dass kinderlose Witwen keine Rente mehr erhalten sollen. Die Vorlage scheiterte aber in der Volksabstimmung.
Verwitwete in der Schweiz (2023)
321’000 Witwen [1]
– davon 184’000 mit Renten [2]83’000 Witwer [1]
– davon 30’000 mit Rente [2]
Im Oktober 2024 schlug der Bundesrat dem Parlament eine neue Regelung vor: Hinterbliebene beiderlei Geschlechts sollen eine Rente nur solange erhalten, als sie für den Unterhalt von Kinder sorgen müssen. Es sei «nicht mehr gerechtfertigt, unabhängig von der finanziellen Situation der Versicherten lebenslange Renten auszurichten». Kinderlos Verwitwete sollen nur noch zwei Jahre lang eine Übergangsrente erhalten. Einzig für Personen, die bei Verwitwung das 55. Altersjahr vollendet haben, soll ein lebenslanger Rentenanspruch bestehen bleiben. [3]
Das heisst im Klartext: Wer sich bei der Heirat auf das traditionelle bürgerliche Familienmodell verlassen hat, seinen Partner aber im frühen Alter und verliert und nicht (mehr) für Kinder aufkommen muss, geht leer aus. Das bürgerliche Lager bestraft also rückwirkend, wer sich auf bürgerliche Werte verlassen hat. Ganz offensichtlich trauen die Bürgerlichen selber diesen Werten nicht mehr; insgeheim geben sie mit der neuen Regelung zu, dass die alten Werte nicht mehr tragen, weil im Land der exorbitanten Immobilienpreise und der steigenden Krankenkassenprämien viele Paare zu doppeltem Erwerbseinkommen gezwungen sind. Vor allem aber soll die Regelung auf dem Buckel jüngerer Witwen die angeblich gefährdete Finanzierung der ersten Säule (AHV) sichern helfen, nicht zuletzt der 13. Monatsrente, die das Volk gegen den Willen der Bürgerlichen beschlossen hat. Die Witwen erhalten die Prügel, die eigentlich der AHV gelten, diesem einzigartigen und erfolgreichen Sozialwerk, das den Bürgerlichen schon immer ein Dorn im Auge war, während sie die zweiten Säule (Pensionskassen) favorisieren, die sich vor allem durch einen steten Fall der Rente auszeichnen.
Eine nicht rückwirkende Lösung für Verwitwete würde die Rentenberechtigung an das Datum der Heirat binden: Wer nach Inkrafttreten der neuen Regelung heiratet, verliert die lebenslange Rente – so wüsste man bei künftiger Heirat, was gilt.
2. Rückwirkende Steuer auf europäische Staatshilfe in Italien
Wegen der volkswirtschaftlichen Einbrüche infolge der Corona-Pandemie schüttete die EU ein Füllhorn aus, um den Mitgliedsstaaten auf die Beine zu helfen. Italien erhielt mit fast 173 Milliarden (davon 82 Milliarden als Subvention) das grösste Stück vom 3’000 Milliarden schweren «Recovery Fund». Die zweite Regierung Conte (Cinque Stelle und Partito Democratico) hatte die an sich kluge Idee, das Geld in die Erneuerung der Bausubstanz und damit in den Aufschwung der Bauindustrie zu investieren. 90 Prozent der italienischen Wohnhäuser gehören zu den zwei schlechtesten Energieklassen (F und G); mit dem ambitiösen Programm «Bonus 110» sollten die Eigentümer gewonnen werden, ihre Liegenschaften ohne eigene Kosten um mindestens zwei Energieklassen zu verbessern. Zum Motivierung gehörte auch das Versprechen, dass der Staat selbst bei einem späteren Verkauf der Liegenschaft keine Abgabe auf den erzielten Mehrwert verlangen werde,
Dem Programm hafteten die üblichen, politischen und bürokratischen Fehler an. Erstens war die Frist zur Inangriffnahme der staatlich geförderten Massnahmen auf wenig mehr als ein Jahr beschränkt. Das führte zu einem Ansturm auf eine völlig unvorbereitete Bauwirtschaft, mit der Folge, dass zahlreiche Projekte nicht oder nur unsorgfältig ausgeführt werden konnten. Zweitens war auch die Fiskalbürokratie, welche die Finanzierung in Form von Steuergutschriften «mafiasicher» sicherstellen sollte, heillos überfordert. Die Frist zur Bezugsberechtigung musste zweimal verlängert werden, bis schliesslich die stramm rechts stehende Regierung Meloni den Stecker zog mit dem Argument, die ganze Übung habe viel zu viel gekostet (123 Milliarden, Stand Juli 2024), und profitiert hätten vor allem jene, die sich eine Isolation ihrer Liegenschaft auch selber hätten leisten können. Fakt ist freilich, dass weniger Bemittelte einen schlechteren Zugang zu Fachleuten hatten, die ihnen beim komplizierten Procedere hätten helfen können.
Hätte man die ganze Übung von Anfang an gestaffelt und zeitlich gestreckt in Ruhe angegangen, wäre Italien heute näher am Ziel, das die EU 2021 [5] beschlossen hat: Ab 2030 dürfen Wohnungen mit Energieklasse F oder G nicht mehr vermietet oder verkauft werden, ab 2033 auch kleine Wohnungen mehr mit Klasse E. Doch die politische Klasse in Italien hat aus den Erfahrungen mit dem Bonus 110 nichts gelernt: Es gibt keinen Plan, wie der weitaus grösste Teil der italienischen Wohnungen fristgerecht auf mindestens Klasse D gebracht werden soll; die Staatskasse ist leer, die meisten der betroffenen Wohnungseigentümer haben zu wenig Geld und die Bauwirtschaft hat nicht die erforderlichen Kapazitäten.
In einem aber war die Regierung Meloni sehr stark: Anfang 2024 beschloss sie, dass beim Verkauf von mit Bonus 110 renovierten Wohnungen der Staat mit 26 Prozent am erzielten Mehrwert beteiligt wird, egal, ob der Mehrwert allein oder nur zum Teil der Renovation zu verdanken ist. Man kann eine derartige rückwirkende Veränderung der Spielregeln auch als Verunsicherung der Investoren bezeichnen – aber es handelt sich in vielen Fällen ja nur um kleine Wohnungseigentümer, die sich kaum mit gewieften Steueranwälten wehren können, es sei denn dereinst mit dem Wahlzettel, wenn sie’s bis dahin nicht wieder vergessen haben.
Quellen:
[1] https://ugeo.urbistat.com/AdminStat/de/ch/demografia/famiglie/schweiz/756/1
[2] https://www.profamilia.ch/images/Downloads/PublikationenSchweiz/P-Deutsch/AHV-Statistik 2023 d.pdf
[3] https://www.bsv.admin.ch/bsv/de/home/sozialversicherungen/ahv/reformen-revisionen/witwenrenten-ahv.html
[4] https://www.lastampa.it/economia/2020/05/27/news/recovery-fund-l-italia-ricevera-piu-fondi-di-tutti-172-miliardi-di-euro-per-il-post-coronavirus-1.38896442/
[5] https://www.enbw.com/blog/wohnen/energie-sparen/neue-energieeffizienzklassen-was-jetzt-wichtig-ist/
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