Der 7. Oktober als Feier Voreingenommener?

Das am 7. Oktober 2023 in Israel angerichtete Massaker ist auch für mein Empfinden schrecklich und durch nichts zu entschuldigen, unabhängig davon, wie viele Menschen damals durch Hamas-Kämpfer oder in Befolgung der israelischen Hannibal-Direktive ermodet worden sind.
Ebenso schrecklich ist für meine Empfinden, dass zwei Jahre danach der Tag von einigen wie eine Feier der Rechthabenden begangen wird. Ein paar Beispiele auf Facebook, zu denen ich mich geäussert habe.

«Der 7. Oktober markiert den schwersten Anschlag auf Israel und das grösste Pogrom an Jüdinnen und Juden seit der Shoah. 1.200 Menschen wurden bei dem entsetzlichen Angriff der Terrororganisation Hamas ermordet, 250 Menschen – darunter auch Kinder – wurden als Geiseln genommen.»
Andreas Babler, Chef der SPÖ und österreichischer Vizekanzler

Acht Jahrzehnte Terror, Unterdrückung, Vertreibung und, wenn das alles nichts nützt, Vernichtung – wie naiv oder ideologisch verblendet kann man sein, am 7. Oktober nur an die eine Seite zu denken, an die des Unterdrückers? Wenn man den Opfern im Gedenken gerecht werden kann, dann nur, wenn man alle Opfer beklagt.

Jemand repostete den folgenden Artikel:

«7. Oktober 2023 – Das Massaker als Triumph

Der 7. Oktober 2023 war kein Widerstand und auch kein Blutrausch der Hamas, sondern eine imperiale Geste ihres Willens zur Vernichtung der Juden. Es hat das Versprechen der Sicherheit zerstört, das der Staat Israel seinen Bürgern sowie den Juden in aller Welt seit seiner Gründung – trotz der permanenten Terroranschläge und Kriege – geboten hat: dass sie nie mehr schutzlos Pogromen und Massakern ausgesetzt sein würden, die jüdisches Leben in der Diaspora stets überschattet haben.
Das Massaker hat ausserdem erreicht, was eigentlich kaum vorstellbar schien: dass die internationale Solidarität mit Israel auf einen Tiefpunkt gesunken ist, dass die Shoah selbst vielen politisch Linken nichts anderes mehr bedeutet als einen illegitimen Versuch, die Existenz des Staates Israel zu legitimieren.»

Marina Münkler, Professorin für ältere und neuzeitliche Literatur und Kultur an der TU Dresden
Ganzer Text: https://www.sueddeutsche.de/kultur/marina-muenkler-7-oktober-massaker-israel-gaza-hamas-lux.FxP4DCCuqNdDT3xkQzyoBp

Ein typisches Beispiel für intellektuelle Unredlichkeit, ja: Feigheit. Es wird den Urhebern (und deren ganzem Umfeld) einer – als solche abscheulichen – Tat zur Befreiung aus jahrelanger Gefangenschaft vorgeworfen, nichts anderes als eine «imperiale Geste ihres Willens zur Vernichtung der Juden» an den Tag gelegt zu haben. Kein Gedanke daran, wer in dieser üblen, seit acht Jahrzehnten schwärenden Geschichte imperialistisch handelt, noch daran, dass Israeli und Juden zwei verschiedene Entitäten sind.

Jemand anders verwies auf einen schon etwas älteren Artikel:

«Wahrheit und Wirklichkeit
Die Massaker der Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 in Israel sind in über 60.000 Videos dokumentiert. Trotzdem schenken viele Menschen Falschinformationen aus den sozialen Medien Glauben. Wie kann das sein?
Das Gegenteil der Wahrheit wird geglaubt, wenn sie nur oft genug behauptet wird. Vergangenheit lässt sich verändern, Tatsachen gelten nichts. George Orwell hatte recht. Am Anfang waren es nur alberne Verschwörungstheorien: Die Mondlandung sei von Stanley Kubrick im Auftrag der US-Regierung inszeniert worden.
Die Welt würde von Reptiloiden regiert, die sich als Menschen tarnen, wie zum Beispiel Barack Obama, die Queen oder Angela Merkel. Die Erde sei eine Scheibe. Paul McCartney sei schon lange tot, Walt Disney nur eingefroren, und Elvis lebe noch. Dann wurde es ernster. Die Terroranschläge am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York seien von der US-Regierung selbst durchgeführt worden.
In London, Stockholm, Barcelona, Washington, New York, Chicago, Sydney und anderen Städten jubeln Menschen über den Terroranschlag auf Israel. Schon zwei Wochen nach den Morden gehen in London 100.000 Demonstranten für die Palästinenser auf die Strasse.»
Ferdinand von Schirach am 22.10.2024 in der «Welt»
Ganzer Text: https://www.welt.de/debatte/kommentare/article254065122/Ferdinand-von-Schirach-ueber-Soziale-Medien-Wahrheit-und-Wirklichkeit.html

Ich hätte von Schirach schon etwas mehr erwartet. Im Grunde bedient er hier ein Narrativ, das die Fortsetzung eine Kriegs fördert, der die Vernichtung der Menschen zum Ziel hat, von denen er gerade nicht spricht. Dass er hierfür alle in einen Topf wirft, die ihm nicht passen, ist intellektuell unredlich, ja: unterirdisch.
Es handelt sich um eine selektive Wahrnehmung von Gegenwart und Geschichte. In populistischen Zeiten reicht es vielen, beim Kommentieren eines historischen Datum alles auszublenden, was über die eigene Nasenspitze hinaus ginge. Erbärmlich, vor allem der Text von Schirach, der im Grunde sogar die brutal hingeschlachteten Menschen beleidigt, denen er gedenken will.

Auch der deutsche Autor Ralf Bönt meldete sich auf Facebook mit einer Nebenbemerkung zum 7. Oktober. Meine kritische Bemerkung dazu ist zwar verschwunden, erhalten aber bleibt eine Reaktion von Bönt:

«und noch den Bolschewismus und die Weltherrschaftsphantasien dazu, ne? wann hört das auf? wenn sie die Terroristen alle freigelassen haben, von denen man ja weiss was die dann tun?»

Was haben jetzt der Bolschewismus und die Weltherrschaft hier verloren? Seltsam entgleiste Argumentation…
«Terrorist» ist in dieser einseitig erzählten Geschichte jeder, der während der Intifada (d.h. Widerstand gegen die zionistische Unterdrückung) auch nur einen Stein geworfen hat, auch Kinder.
Und ja, man kann sich ausrechnen, «was die dann tun», wenn man sie nur lang genug drangsaliert und bombardiert hat…

Daraufhin bemühte sich Bönt um Belehrung:

«Es bringt zwar meist nicht viel, wenn sich deutsche Internetnutzer vieltausendfach dargelegte Sachverhalte häppchenweise gönnen und missgönnen, aber dies hier lohnt schon, und wenn auch nur für etwaige Mitleserinnen, denn Sie wirken nicht sehr interessiert:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/buchkritik-benny-morris-die-geburt-des-palaestinensischen-fluechtlingsproblems-100.html »

Ralf Bönt, insultieren, wen man gar nicht kennt, spricht Bände und zeigt von eigener intellektueller Bequemlichkeit. Es gibt sehr viele (zu viele) Bücher, die mein Interesse haben; ich folge dem Link gern, auch wenn ich lieber lese als zuhöre.–
Gut, hab’s mir angehört. Eigentlich müsste man nun ja das Buch lesen, um zu wissen, ob die kurze Rezension den Kerngehalt reflektiert. Wenn ich mich jedoch über den Autor informiere, kommt nicht wirklich Neugier auf.

«Morris criticised David Ben-Gurion for not fully carrying out such a plan, saying: „In the end, he faltered. … If Ben-Gurion had carried out a large expulsion and cleansed the whole country … If he had carried out a full expulsion—rather than a partial one—he would have stabilized the State of Israel for generations“»
so der israelische Historiker Benny Morris 2004 in einem Haaretz-Inte
rview.
Ganzes Interview: https://www.counterpunch.org/2004/01/16/an-interview-with-benny-morris/

Im übrigen ist die Erzählung davon, dass es die Palästinenser als Volk gar nicht gebe, erstens nicht zielführend bei der Lösung des ganzen Konflikts und zweitens zweischneidig; die Existenz eines jüdischen Volkes im ethnischen Sinn lässt sich genauso bezweifeln, so der israelische Historiker Shlomo Sand.

Wenn wir von Menschen zu sprechen begännen statt von mehr oder weniger schwammigen Stammeszugehörigkeiten, kämen wir einer Konfliktlösung näher.



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