Untergehende Imperien [1]

November 29, 1863: the Assault on Fort Sanders. Civil War Lithograph by Kurz and Allison, restored by Adam Cuerden (Wikimedia Commons)

Frage an die Historiker unter euch:
Stimmt es, dass Imperien besonders heftig um sich schlagen, bevor sie untergehen, wie manche mit Seitenblick auf die USA behaupten.

Hat Westrom im Lauf seines NIedergangs noch grosse Kriege geführt? Die von Norden eindringenden Germanen hat Rom doch eher als Legionäre integriert.
Hat das kurzlebige räuberische Reich der Vandalen in Nordafrika und dem Mittelmeer Krieg gegen Ostrom geführt? Es hat sich zweimal erfolgreich gegen Angriffe der Byzantiner gewehrt, beim dritten Angriff verschwand es von der Bildfläche, weil seinem König das Dichten wichtiger war.
Hat die Sowjetunion vor ihrer Auflösung die Nachbarn militärisch bedroht? Sie implodierte an ihren inneren Widersprüchen.

Auch im grossartigen Buch von Laura Spinney über die Entstehung der indoeuropäischen Sprachen [2] wimmelt es geradezu von aufsteigenden und verschwindenden Zivilisationen; doch von Kriegen untergehender Imperien ist da kaum die Rede.

Soll die Behauptung einer historische Gesetzmässigkeit vielleicht von etwas ablenken, was die US-Regierung wirklich tut?


Diskussion [1]

Denise: Es wäre beruhigend, wenn brutalst akzelerierte Gewalt die letzte Aufbäumung bedeutete vor dem Niedergang. Á la Antonio Gramsci, dass in Zeiten des Wechsels die größten Monster hervorkommen.
Aber es scheint, dass Imperien meist leise untergehen, durch innere Erosion, wie du beschreibst, nicht durch überdimensionierte, letzte Kriege.
Westrom endete, als Odoaker den letzten Kaiser ohne Schlacht entmachtete, die Vandalen fielen, nachdem sie durch Distraktion innert kürzester Zeit Karthago verloren, die Sowjetunion implodierte nach einem gescheiterten Putsch, das Britische Empire zog sich still aus Indien und Suez zurück – kein letzter Krieg, ein langsamer Abschied. Ebenso verließen die Maya ihre Städte vermutlich wegen Dürre und Elitenflucht, evt. – so wird spekuliert – bestärkt durch lähmende Vorzeichen in ihrem existenziell wichtigen Kalender.
Ausnahmen wären das verzweifelt breit um sich schlagende sterbende Dritte Reich. Oder Napoleon, der gleichzeitig in Leipzig und im Frankreichfeldzug kämpfte.
Die Regel ist also der leise Zerfall, während panische große letzte Zuckungen eher selten sind.

Aktualität: Du fragst, und viele tun das mit dir, ob das US Empire von seinem Zerfall ablenkt. Viele Beobachter sehen in Trumps aggressivem innen- und aussenpolitischen Aktionismus Hinweise darauf. Gleichzeitig deutet die wachsende Schere zwischen Arm und Reich auf eine rasante innere Zerstörung hin.
Einige Beobachter wenden die «letzte Hybris»-These auf Israel an: forcierte äußere, militärische Überdehnung und Verletzung sämtlicher internationaler Gesetzte und Menschenrechte (Gaza, Libanon, Syrien, Siedlungspolitik), gepaart mit innerer Erosion (wachsender gesellschaftlicher Riss, Suizidraten in der Armee, vermehrte häusliche Gewalt, Therapieresistenz durch Verleugnung und Empathieverbot, Emigration junger Eliten). Sie sehen darin eine hybride Variante – Sadismus als Systemmerkmal, das von innen zerfrisst, während es nach außen noch immer mehr zuschlägt.
Aber das ist kein historischer Mechanismus. Diese Thesen bleiben Spekulation – und betreffen die aktuelle Politikdebatte, nicht die Geschichtswissenschaft.

Bruno: Ray Dalio hat sich diese Frage auch gestellt. Als einer der reichsten Amerikaner konnte er ein Forschungsteam darauf ansetzen. https://youtu.be/xguam0TKMw8

Billo: Bruno, ich kenne Ray Dalio nicht, ich weiss nur, dass er ein milliardenschwerer US-Finanzhai ist. Ich hab mir sein Video angeschaut; seine wirtschaftshistorische Darstellung scheint mir reichlich holzschnittartig und, wenn überhaupt, nur auf die relativ kurze Phase des Kolonialismus/Kapitalismus in der Menschheitsgeschichte zu zu treffen, wobei abweichende Fälle einfach unerwähnt lässt, zum Beispiel Spanien, das seinen Untergang als Weltmacht vor allem durch die Vertreibung der Juden und der Flamen, also zweier für die ökonomische Entwicklung wichtiger Gruppen, selber in Gang gesetzt hat. Auch der Fall Deutschland scheint mich nicht in sein etwas einfaches Schema zu passen.
Was die Geschichte seit den ersten grossen Zivilisationen betrifft, sind meine Fragen und die Anmerkungen von Denise damit nicht beantwortet.

Bruno: Ich habe mir sein Buch angehört, weil mich seine Einschätzung der aktuellen Situation Amerikas interessiert. Ich gehe davon aus, dass das Amerikanische Imperium nicht so verhältnismässig schmerzlos (in geopolitischen Dimensionen) untergehen wird, wie das Sowjetische. Dies weil es auf viel stärker wirkenden individuell, egoistischen und weniger auf ideologischen Triebkräften aufbaut. Tut mir leid Billo, mehr habe ich dir aktuell zum Thema nicht zu bieten.

Gabriela: Dass Imperien untergehen ist gesetzmäßig. Wie sie untergehen, nicht. Das liegt an den Gegebenheiten.


[1] zuerst auf Facebook publiziert
[2] Laura Spinney (2025: «Proto. How on e ancien tlanguegae went global». William Collins Books, London


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