Aus Medien aller Art schauen uns unablässig die immer gleichen führenden Personen an. Sie richten es für uns. Wirklich? Warum nehmen wir nicht selber und gemeinsam an die Hand, was uns betrifft?

In der wirklich sehenswerten Dokumentation über Julian Assange [1], in der die Geschichte von WikiLeaks und den jahrelangen Leidensweg ihrer Galionsfigur aus verschiedenen, auch kritischen Blickwinkeln nachzeichnet, sagt eine isländische WikiLeaks-Aktivistin der ersten Stunde am Schluss ein paar bemerkenswerte Sätze:
‚We have to learn from the mistakes WikiLeaks did. The main mistake was to make it as if it was one person. The most dangerous thing, and if you are an activist, you know this. You must not paint the target on one person and if that person goes, the whole thing unravels. It’s crazy shit. It’s too often, and it’s too often men who do it. There are no heroes. We are just going to have to figure out how we can collectively save ourselves.‘
Birgitta Jónsdóttir
«Wir müssen aus den Fehlern von Wikileaks lernen. Der grösste Fehler war, so zu tun, als ginge es um eine Person. Das ist die gefährlichste Sache, und wenn du eine Aktivistin bist, dann weisst du das. Du darfst das Ziel nicht auf eine einzige Person konzentrieren. Wenn diese Person wegfällt, bricht das Ganze in sich zusammen. Das ist totaler Schwachsinn. Es geschieht zu oft, und es sind zu oft sind es Männer, die so handeln. Es gibt keine Helden. Wir müssen einfach Wege finden, uns gemeinsam zu retten.»
Birgitta Jónsdóttir
WikiLeaks-Aktivistin seit dem Start in Reykjavik im Jahr 2008, verliess später aber die Organisation. Von 2009-2017 war sie Mitglied des isländischen Parlaments
Birgitta Jónsdóttir trifft damit den Nagel auf den Kopf: Genau das ist das Problem so vieler Bewegungen, die einst angetreten sind, die Verhältnisse zu verändern, von der Arbeiter- über die Umwelt- bis zu Demokratiebewegungen. Ihr mangelnder Erfolg und ihr schliessliches Scheitern haben viel damit zu tun, dass einzelne Personen die führende Rolle im innen und gegen aussen übernommen, oft von einer Basis dazu gedrängt, die froh war, dass jemand den Job machte, weil der oder die doch das Zeug dafür mitbrachte.
Aus eigener Erfahrung weiss ich, wie schwierig es ist, andere zu motivieren, auch einmal selber eine führende Rolle zu spielen. Viele trauen sich nicht zu, einfach mal ins kalte Wasser zu springen und dabei zu lernen. Dazu kommt der Erwartungsdruck von aussen, von Journalisten, Politikern, Verhandlungspartnern: Du hast das doch bis jetzt gemacht, warum schickst du jetzt eine andere Person? Die kann doch das nicht so gut! Doch wie sollen andere denn lernen, dass sie’s ebenfalls können? Und wie soll eine Gruppe, eine Bewegung, eine Partei stark werden, wenn nur wenige Personen sich entfalten?
Die Spitzenkandidatenen [2]
In der Politik der letzten Jahrzehnte ist das Heldenproblem besonders deutlich geworden, in vielen Ländern und auf allen Ebenen von der Gemeinde bis zur Staatsregierung und darüber hinaus. Wahlen drehen sich vor allem um Spitzenkandidatenen, die auf dem Schild gehoben werden. In Italien etwa müssen die Wahlplakate und die Wahlzettel nicht mehr nur den Namen der Partei tragen, sondern auch den Namen der Spitzenperson. Auch bei der undemokratischen ausgemarchten Wahl der EU-Kommissionsführung hat sich die Unsitte des Spitzenkandidatentums eingeschlichen, sie dominiert mittlerweile vollkommen sachfremd die Wahl der Abgeordneten ins Europaparlament.
Spitzenpersonen verhalten sich nach ihrer Wahl dementsprechend. Ein besonders stossendes Beispiel ist die ehemalige deutsche Aussenministerin, die aus ihrem rein formalen Job als Generalsekretärin der UNO-Vollversammlung ein Gedöns macht, als wäre sie die Chefin der ganzen Welt; sie kann nach ein paar Jahren Stolpern im Rampenlicht schlicht nicht mehr anders. Heldentum verändert den Charakter der Helden wie auch der Truppe.
Der Populismus hat das Heldenproblem noch auf die Spitze getrieben, die Reihe der Beispiele ist lang, die Namen sind bekannt, da sie uns stündlich unter die Nase gerieben werden. Von Journalisten, die ihre Aufgabe vergessen haben und die immer gleichen wenigen Figuren interviewen; ein Blocher beispielsweise wurde nur deswegen übermächtig, ein Trump nicht minder. Und von endlos geteilten Postings auf social media.
Der Fall nicht nur für diese Figuren, sondern für die ganze Gesellschaft, der sie eigentlich dienen müssten, ist entsprechend tief. Ein Starmer etwa, der nach jahrzehntelanger Herrschaft der Tories angetreten war, Grossbritannien wieder voranzubringen, steht vor einem vorwiegend von anderen verursachten Scherbenhaufen und das Land mit ihm.
Der Tanz um die goldenen Spitzenkandidatenen ist im Kern undemokratisch und zugleich verderblich.
Führen heisst andere fördern
Natürlich gibt es Personen, die dank besondere Umstände besser in der Lage sind, Dinge vertieft durchzudenken, Visionen und Strategien zu entwickeln und entschlossen voranzugehen. Die wichtigste Aufgabe solcher Menschen ist es freilich, ihre Gabe mit anderen zu teilen und sie zu ermutigen, Ihrerseits Aufgaben zu übernehmen, die sie sich alleine nicht zutrauen würden. Führen heisst zudem, Entscheide nicht alleine zu treffen, sondern mit diesen Menschen gemeinsam. Demokratie kann sich nur entwickeln, wenn jede Person an ihrem Ort aktiv mitgestaltet.
Andernfalls verkommt Demokratie zur fremdbestimmten Veranstaltung, bei der die Gesellschaft in angeblicher Alternativlosigkeit verludert, bis hin zum Ausschluss bestimmter Gruppen, bis hin zur Vernichtung von Lebensgrundlagen und bis zum unausweichlichen Krieg.
[1] Etienne Huver (2025, ARTE): «Julian Assange mundtot gemacht»
[2] Mein Versuch zu einer sprechbaren genderneutralen Sprache: «MitgliederInnen – oder wie jetzt?»
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