Wie viel Subjektivität erträgt die Wissenschaft?

Die neuste Ausgabe des Schweizer Forschungsmagazins «Horizonte» [1] widmet seinen Schwerpunkt der Frage nach der Objektivität in der Wissenschaft, genauer der Frage, wie viel Subjektivität und persönliche Betroffenheit in der Forschung zulässig sind. Am Beispiel von vier Forschenden mit eigener Erfahrung einer Behinderung oder sexistischer oder rassistischer Ausgrenzung wird deutlich, dass gerade die persönliche Betroffenheit ihre Forschung ermöglicht hat. Weitere Beiträge vertiefen die Frage nach der wissenschaftlichen Objektivität und deren historische Entwicklung.

Es ist eine beliebte Vorstellung, dass Geistes- und Sozialwissenschaften und selbst die Medizin nicht den hohen Objektivitätsstandard der Naturwissenschaften erfüllen können, weil Subjektivität und eigene Betroffenheit immer mit im Spiel sind. Doch selbst bei strengsten experimentellen Bedingungen sind auch naturwissenschaftlich Forschende stets teilnehmende Beobachter und beeinflussen die Ergebnisse. Sie bestimmen die experimentelle Fragestellung, fokussieren also auf bestimmte Fragen und schliessen andere aus und tun dies mehr oder eher weniger bewusst aus einem persönlichen Erkenntnisinteresse — ein Interesse, mit dem sich Forschende kritisch auseinandersetzen sollten, wie das in den Geistes- und Sozialwissenschaften schon länger geschieht. Der grosse Vorteil der Naturwissenschaften liegt in der Reproduzierbarkeit experimenteller Erkenntnisse und deren weit fortgeschrittenen statistischen Analyse; das ersetzt freilich nicht die kritische Selbstreflexion über Absicht und Adressat der Forschung und ist kein Garant für eine (vermeintlich) wertfreie Wissenschaft.

Kritische Selbstbefragung

Nach der Lektüre dieses Heft habe ich mein eigenes Tun kritisch befragt. Als Campaigner hatte ich mich jahrelang für den Schutz von Tieren in der Landwirtschaft, in der Aquakultur und in der Fischerei engagiert, gepaart mit eigenen praktischen Erfahrungen aus der Haltung einer Gruppe von Hühnern und der Begleitung unterschiedlicher handwerklicher Fischereien. Das zugrunde liegende Erkenntnisinteresse war es, Wege zu finden, wie Menschen den von ihnen genutzten Tieren möglichst wenig Leid zufügen und möglichst viel Lebensfreude ermöglichen können. Dieses Interesse hat im Lauf meiner Tätigkeit an Kraft gewonnen und wurde eine Basis für Forschungsprojekte zur Verbesserung des Fischwohls, die ich später entwickelt und geleitet habe. Diese Forschung war klar zielgerichtet: Ich wollte herausfinden, welche Fischarten sich überhaupt wohlfühlen können in Gefangenschaft, und welche Fangmethoden überhaupt geeignet sind, das Leiden der Fische so kurz und gering als möglich zu halten. 

Das war keine Forschung im strengen experimentellen Verständnis von Naturwissenschaft, und sie war nicht objektiv im Sinne völlig wertfreier Fragestellung. Aber sie war und ist transparent und offen für Kritik und abweichende Erkenntnisse [2].

Nachdem ich die Leitung dieser Projekte in jüngere Hände gegeben habe, hat sich meine Haltung noch verstärkt: Wenn ich die Forschungsergebnisse für mich auf den Punkt bringe, bleiben bestenfalls drei, vier Fischarten übrig, bei denen die grösstmöglichen Anstrengungen zu einem Wohlbefinden in Aquakultur führen können, und bestenfalls mit einigen wenigen handwerklichen Fangmethoden lässt sich das Leiden der Fische auf ein Minimum reduzieren [3]. Diese Erkenntnis ist heute der Ansatz, von dem aus ich Forschung und Praxisbeispiele als freier Autor kritisch beurteile, subjektiv aus meinem jahrzehntelangen Anliegen heraus, objektiv aus der wahrscheinlichen Sicht der betroffenen Fische, nach deren Meinung kaum je gefragt wird. 


Quellen und Links:

[1]Horizonte, Juni 2025,  https://www.horizonte-magazin.ch/
Die hervorragend gemachte Zeitschrift berichtet vierteljährlich über die Forschung in der Schweiz und widmet sich jeweils in einem Schwerpunkt wissenschaftlichen Fragen. «Horizonte» erscheint als (gratis abonnierbares) Heft auf Deutsch und Französisch sowie online auch auf Englisch. Sie wird herausgegeben vom schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) und von den Akademien der Wissenschaften Schweiz.

[2] fair-fish database https://fair-fish-database.net/

[3] Referat «From the fish’s perspective — animal welfare beyond marketing»
https://youtu.be/lOFeNu1lvwc oder 
https://open.substack.com/pub/billoheinzpeterstuder/p/from-the-fishs-perspective-animal?r=3nzelv&utm_campaign=post&utm_medium=web

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