Zur kleinen Universität im helvetisch-mondänen Lugano gehört eines der weltweit führenden Institute für Künstliche Intelligenz (KI). Hier lehrt und forscht nebst anderen Jürgen Schmidhuber, ein nett aussehender Professor aus Bayern, der gern grobe Dinge sagt, wie jüngst im Interview mit einem Kulturredaktor des Tages-Anzeigers. Über die Folgen seines Forschens etwa: «Der Mensch wird keine dominante Rolle mehr spielen», oder: «Bewusstsein ist ein Nebenprodukt der Datenkompression». Er provoziert aber auch gern mit Sätzen über Dinge fern seiner Wissenschaft, wie: «Die Erfindung des Kunstdüngers war das wichtigste Ereignis im 20. Jahrhundert».
Aha. Ehrlich gesagt finde ich nur gerade ein Nebenprodukt von Schmidhubers Forschung interessant, sogar aufregend. Alles andere ist für mich nichts weiter als «more of the same» und daher schrecklich langweilig.

Tiere und Menschen» (Maria Uhden, 1917 / Wikimedia Commons)Unsterblich und nichts tun müssen
Was hinter der Erforschung und Anwendbarmachung «neuer» Technologien steckt, gilt auch für die «künstliche Intelligenz» und Schmidhubers neuronale Netze, nämlich zwei ziemlich alte Träume der Menschheit: Unsterblichsein und Nichtstunmüssen.
Der Traum vom Leben ohne materielle Zwänge hat den Erfindergeist bei jeder Automatisierung angetrieben, wenn er auch Mal für Mal grausam missbraucht worden ist, um den gierigsten unter den Kapitalisten einen kurzen Vorteil im Wettbewerb gegen den Rest ihrer Klasse zu verschaffen, bis der erreichte Schritt an Rationalisierung und Profitmaximierung von allen nachvollzogen war und die Gierigsten in einen weiteren Schritt investierten. Auch einer wie Schmidhuber gehört zu den Missbrauchten.
Der Traum von der Unsterblichkeit wird allen Anstrengungen zum Trotz auf medizinischem Weg kaum je zu verwirklichen sein. Doch der Traum hat einen Ableger: Es reicht ja, wenn das ewig lebt, was den Menschen wirklich ausmacht: die Intelligenz, losgelöst von der letztlich doch sterblichen und eigentlich eh lästigen Hülle. Ja ja, die Intelligenz. Und wie könnte sie besser ewig leben, wenn nicht in vollkommener Loslösung von uns selbst? So träumen Schmidhuber und Kollegen in aller Bescheidenheit über sich selbst hinaus; es genügt ihnen, «künstliche Intelligenzen» zu schaffen, die alles tausendmal schneller und besser können werden als es die ganze Menschheit jemals vermöchte.
Endlosschlaufe bis in alle Ewigkeit?
Aha. Und dann? Nichts dann. Nichts weiter. Es geht in diesen Fantasien alles einfach weiter wie in den letzten paar Jahrhunderten. Technisch ist alles lösbar, was technisch lösbar ist – eine Endlosschlaufe, ein Teufelskreis, immer mehr vom immer Gleichen, aber so designed, dass es kaum jemand merkt. Noch ein neues Superschlautelefon, das musst Du haben, es nimmt Dir alles ab! Noch ein intelligenterer Supertrawler für die Jagd nach dem letzten Fisch. Noch eine sicherere Technik zur Gewinnung von Energie aus Atomkernen. Noch neuer, noch grösser, noch… Was nicht technisch lösbar ist, bleibt dabei ungelöst, seit Jahrhunderten zumindest, wird oft nicht mal mehr wahrgenommen.
Und nun soll, was uns mit der weiteren Entwicklung von Big Data, Deep Mind und Deep Learning bevorsteht, alle andern Veränderungen in der Erdgeschichte in den Schatten stellen, an Bedeutung gleichauf mit dem Urknall ?
Schmidhuber und seine Leute glauben sowas. Technisch hochintelligente Wissenschafter, die wie die ganze Gesellschaft in andern Bereichen menschlicher Intelligenz auf dem Niveau eines verwöhnten Kinds stehen geblieben zu sein scheinen. Wenn Schmidhuber als grösste Erfindung des vergangenen Jahrhunderts den Kunstdünger feiert, den er als Grundlage der dramatischen Bevölkerungsexplosion sieht und als Garant für die Ernährung des grösseren Teils der heute lebenden Menschen, dann fragt man sich unwillkürlich, was dieser Mann ausser Kunstdünger eigentlich isst und auf welchem Planet er denn lebt.
Was bitte ist so bewundersnwert daran, dass statt wie Jahrtausende lang ein paar hundert Millionen Menschen plötzlich fünfundzwanzigmal so viele die WeltErde bevölkern? Werden die grundlegenden Probleme des gemeinsamen Lebens auf einem begrenzten Planeten, welche die Menschheit schon bei kleinerem Bestand nicht zu lösen vermochte, besser lösbar, wenn plötzlich mehr als sieben Milliarden zu füttern sind? Und zu füttern nicht nur mit Materie; denn wie Ivan Illich schon in den 1980er Jahren eindringlich sagte: Das grösste Problem der so zahlreich gewordenen Menschheit ist nicht das Stillen des physischen Hungers, sondern des Hungers nach Sinn des eigenen Seins.
Flucht vor der Frage nach dem Sinn bis hinaus ins All
Die technischen «Revolutionen» lassen sich auch lesen als stete Flucht vor der Frage nach diesem Sinn, eine kollektiv organisierte und individuell im Konsum all der Wunderdinge gelebte Flucht. Die grösste aller Fluchten aber ist die ins ferne All, und weil der Mensch sich für Lichtjahrreisen nicht besonders eignet, sollen in Schmidhubers Fantasie stellvertretend Roboter auf die Reise geschickt werden. So würden also bald einmal von idiots savants programmierte «künstliche Intelligenzen», die sich ad infinitum selber reproduzieren, den Weltraum erobern und dort der ganzen Menschheit Schande machen, weil sie auf Ewigkeit nie über den geistigen Horizont hinauskommen können, den die klügsten Menschen in ihrer Beschränktheit zum Zeitpunk der Programmierung erreicht hatten.
Wir leben heute im Durchschnitt zwar länger als unsere Vorfahren; aber von der Unsterblichkeit sind wir noch Immer gleich weit entfernt. Und wir lassen uns zwar sehr viel mehr Arbeit von Automaten abnehmen; aber unser Leben ist heute mindestens so vielen alltäglichen Zwängen unterworfen wie Generationen vor uns. So what?
«Wenn der Mann ein Verrückter ist, dann sind auch die Steuerzahler verrückt, die seine Labors mit Geld ausstatten», kommentiert der Kulturredaktor treuherzig Schmidhubers Tun und merkt gar nicht, wie recht er damit hat. Was, bitte, bringt diese Art von Forschung den Menschen? Man mag sagen: Philosophie bringt auch nichts und kostet ebenfalls Steuergelder. Ja, mag sein; aber sie schadet vor allem auch nichts. Was man von «künstlicher Intelligenz» nicht behaupten kann, wenn sie in einer derart aggressiven Perspektive betrieben wird, wie das der ansonsten nett und friedlich aussende Professor in Lugano tut. Jene, die von seiner Forschung profitieren, haben nicht unbedingt Nettes und Friedliches im Sinn.
Relativierte Stellung des Menschen im Kosmos
Das einzig Interessante an Schmidhubers Forschung ist für mich wie eingangs erwähnt ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt: Die menschliche Intelligenz, diese generationenlang massiv überschätzte Grenze, die uns das Tierreich von der Seele zu halten schien, wird jetzt durch menschgemachte Maschinen mit wachsenden intelligenten Leistungen ganz schön relativiert.
Tatsächlich lösen sich angesichts neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse immer mehr der uns einst kategorisch erschienen Trennlinien gegenüber anderen Lebensformen in Luft auf. Intelligenz, Selbst, Person, ja sogar sinnloses Spiel und Spass können bei immer mehr Tierarten nachgewiesen werden, und selbst in der Pflanzenwelt mehren sich Anzeichen für Individualität, Lernen, List, Kommunikation und wer weiss: Bewusstsein gar?
Wenn wir nun im Spiegel einer zunehmenden Konfrontation mit «künstlicher Intelligenz» unsere eigene Intelligenz als nicht mehr so überragend wahrnehmen, wird unser Bewusstsein vielleicht auch offener für die Erkenntnis, dass die Rolle des Menschen für das Ganze schon immer weit weniger dominant war, als wir lange glaubten. Aber eben nicht, weil irgendwelche KI uns bald übertreffen wird, sondern weil wir nichts weiter sind als eine Art unter vielen andern Arten.
Der israelische Historiker Yuval Noah Harari hat in seinem faszinierenden Buch «Eine kurze Geschichte der Menschheit» (DVA, 2013) einen vielleicht letzten Unterschied zwischen dem Homo sapiens und andern Tierarten ausgemacht, der auf Sicht Bestand haben könnte: unsere einzigartige Begabung kollektiven Erzählens von imaginären Dingen, die uns einstmals unglaubliche Dinge erfinden liess. (Das weist, dies hier nebenbei, auf eine Dimension hin, die weit über eine rein technische Intelligenz hinausgeht und ohne die auch scheinbar selbstverständliche Erfindungen nie möglich geworden wären.)
Nun gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, mit dem Verlust der prinzipiellen Andersartigkeit des Homo sapiens umzugehen. Wir können anerkennen, dass wir als Art Teil eines grossen Ganzen sind, und andere Arten als Geschwister begrüssen und sie sozusagen auf unsere Augenhöhe heben.
Oder wir können kleiner machen, was uns einst über andere Arten zu erheben schien. Wir können die Zumutung einer nicht länger bestreitbaren Realität damit lindern, dass wir sagen, Intelligenz und Bewusstsein seien eh nicht so bedeutend, der Mensch werde sowieso keine grosse Rolle mehr spielen…
Hochmut, Fall und deus ex machina
Aber der moderne Mensch kann nicht in einem Bewusstsein leben, dass die Geschichte nicht irgendwie weiter geht. Also erfindet man wie Schmidhuber eine Zukunft mit unsterblichen und superklugen Maschinen, die der Mensch ins All schickt, oder wie Harari im letzten Kapitel seines Buchs eine Zukunft mit Mensch-Maschine-Hybriden.
Dahinter steckt ein anderer uralter und unbewältigter Traum: dass es einen Gott gebe, der plant und schafft, und wenn es ihn nicht gibt, setzt sich der Mensch, der ihn erfunden hat, eben an dessen Stelle und gibt dem Ganzen endlich wieder Sinn. Das ist das Problem mit einem durch Technikprimat ordinär gewordenen Materialismus, der die Beseeltheit aller lebenden Materie ausklammert, Materie und Energie voneinander getrennt sieht – und daher am Ende der Überlegungen einen Gott einführen muss, etwas, das grösser ist als wir und über uns hinausführt und das uns Unerklärliche irgendwie richtet. Und wenn wir uns schon so jämmerlich wenig von anderem Leben unterscheiden, dann wollen wir das Wenige zumindest auf die Spitze treiben.
Die planende, von aussen schöpfende «göttliche Hand» muss gedanklich dann zuhilfe genommen werden, wenn Evolution nicht als immanent verstanden wird. Wenn wir dagegen umgekehrt Evolution als Wesen alles Existierenden begreifen, dann gilt das auch für Bewusstsein, Person, Selbst oder wie wir es nennen mögen: Was sich als Materie äussert, ist zugleich Energie und wird von ihr geformt.
Aus solch kritisch materialistischer Sicht gibt es keine Notwendigkeit für eine transzendentale Sinngebung, die über das je konkrete Sein hinausweist, das doch in sich selbst Erfüllung findet, und es gibt keinen vernünftigen Grund, selber Schöpfer spielen zu müssen im Versuch, dem Elend einer technisch-materialistischen Welt zu entkommen.
Keine guten Argumente
Sollte Schmidhuber diese Zeilen je zu Gesicht bekommen, kann ich mir sein Lächeln vorstellen, mit dem er den Satz wiederholt, den er dem Kulturredaktor des Tages-Anzeigers ins Interview diktierte: «Jaja, ich kenne alle diese Einwände seit Jahrzehnten. Es gibt leider dafür keine guten Argumente.» Genau das ist der Punkt: Es gibt kein einziges gutes Argument für das, was Schmidhuber und seine Kollegen treiben. Nicht eines.
Sogar Schmidhuber wird das vielleicht eines Tages bewusst werden. Sein Trost darf sein, dass er immerhin ein Nebenprodukt hergestellt hat, das ein wenig mithalf, die Menschheit mental weiterzubringen.
Nachtrag 10.09.2016:
Etwas weniger brachial in Richtung All geht die neuste «state of the artificial intelligence»-Studie der Stanford University, zuammengefasst im «Spiegel».
Nachtrag 30.07.2017:
Zauberlehrlings Albtraum: Roboter entwickeln eine eigene, für uns nicht einfach zu verstehende Sprache, in welcher sie sich untereinander unterhalten – über uns?
[1] ursprünglich gepostet auf Facebook: https://www.facebook.com/notes/808376663037970/
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