Über den 8. März hinaus gedacht: Gleicher Nutzen für alle statt halbe Männerrenten für Frauen

Ursprünglich publiziert am 11.03.2021 auf Facebook

Frauen in einem abgelegenen Fischerdorf im Süden des Senegals, die sich auf die Aussicht freuten, dank der Zusammenarbeit mit fair-fish einen Zugang zum europäischen Markt und damit ein besseres Einkommen zu bekommen. Das Projekt ist leider gescheitert. (Foto: Billo Studer, 2006)

Tamara Funiciello, die Präsidentin der Schweizer Jusos, deren klare Haltung und pointierte Stellungnahmen ich schätze, schrieb kürzlich in einer Kolumne über unbezahlte Tätigkeiten von Frauen einen Satz, der mich hellhörig gemacht hat:
«Die sogenannte unbezahlte Sorgearbeit (eben das Putzen, das Kindergrossziehen etc.), die heute vor allem von Frauen geleistet wird, muss rentenbildend werden.» 

Rentenbildend. Echt jetzt?

Das mutet fü¨r mich zunächst nach Politsprech an. Offenbar sagt mensch das jetzt so in politisch tonangebenden Kreisen, weil dann alle, die auch dazu gehören, wissen, was damit gemeint ist. Oder wenigstens so tun können, als ob. So wie bei anderem Fachchinesisch auch alle nicken, bei «zielführend» oder «alternativlos» etwa.


Keine Frage, Frauen sind systematisch benachteiligt

Klar ist seit langem: Frauen mit Kindern haben im besten Fall für ihre Altersvorsorge weniger Beitragsjahre aus gutem Verdienst, im mittelmässigen Fall sind sie von der Altersvorsorge ihres Ehemanns abhängig, und im schlechtesten Fall kriegen sie als Alleinerziehende nur eine magere Altersrente, die kaum hinreicht. Das Alterseinkommen von kinderlosen Ehefrauen hängt vom Partner ab oder, wenn sie ledig geblieben sind, von Beiträgen auf einem Lohn, der deutlich unter jenem von Männern liegt. Und Frauen, die Vollzeit oder nebenher Angehörige pflegen, weil wer sonst soll’s denn machen, kriegen nichts dazu.

Darum, so die nicht mehr so neue Idee, sollen die Frauen in ein Altersrentensystem integriert werden, das ursprünglich auf der Normvorstellung gründet, dass jedermann (Frauen sind wie immer teilweise mitgemeint) 44 Jahre lang einem Vollzeiterwerb nachgeht. Doch mit dieser Norm verhält es sich ähnlich wie mit einer anderen, die in der hier zu überlegenden Frage quer hineinspielen kann: mit der Vorstellung, dass ein verheiratetes Paar sich bis zum Tod nicht scheide. Wir wissen, was davon zu halten ist.

Selbst in hochentwickelten Industrieländern zeichnet sich eine Tendenz des Schwindens von Lohnarbeit im klassischen Sinn ab. Die Zahl der Arbeitsplätze nimmt ab, sei’s wegen der Auslagerung in Länder mit tieferen Löhnen oder weil Menschen durch Automaten ersetzt werden. Per saldo nimmt die Arbeitslosigkeit, was eine zunehmende Zahl von Menschen in Europa und Nordamerika zwingt, sich mit prekärer Arbeit über Wasser zu halten. Rentenbildung fällt dabei eher unter den Tisch, oder genauer gesagt: die Renten bilden sich anderswo, nämlich in Form von zusätzlicher Rendite für jene, welche über Entlassungen und Automatisierung entscheiden.


Lohnarbeit ist nicht die Norm, sondern die Ausnahme

Grosse Teile der Linken und Gewerkschaften argumentieren noch immer auf der Grundannahme, dass Lohnarbeit der zivilisatorische Normalfall und damit ein Grundrecht sei. Zweihundert Jahre kapitalistischer wackerer Nutzung des komparativen Kostenvorteils (produzieren, wo billig, verkaufen, wo teuer) und der Wegrationalisierung von menschlicher Arbeit haben die Genossen nicht zu lehren vermocht, dass die Verhältnisse grundlegend anders sind. Und so haben sie nicht nur Hand dazu geboten, die Menschen in fremdbestimmter Lohnabhängigkeit gefangen zu halten, sondern auch dazu, individuell drohende Armut durch ein kollektives, obligatorisches Sozialsystem erträglich zu halten. 

Von einer kollektiven Verwaltung des natürlichen und gesellschaftlichen Reichtums haben viele Linke noch nicht einmal geträumt; die wenigen, die’s taten, wurden entweder verfemt oder pervertierten die Idee, wenn sie die Macht in einem Staat an sich gerissen hatten und der Machterhalt zur prima ratio ihres Redens und Tuns geworden war.

Lohnarbeit im heutigen Sinn ist geografisch wie historisch eine Ausnahmeerscheinung, und obendrein vermutlich eine vorübergehende. Die Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten kann nicht auf einen regelmässigen Lohn zählen, geschweige denn auf Sozialversicherungen. Derartige Lohnarbeit kannte auch in Europa vor der Industrialisierung nur eine Minderheit, und heute hat eine zunehmende Zahl von jungen Menschen in Europa schlechte Aussichten, je einen regelmässigen Lohn zu kriegen, während eine zunehmende Zahl älterer Menschen nach dem Verlust ihrer Stelle keine Hoffnung mehr hat, je wieder geregelt für Arbeit bezahlt zu werden.


Die Rente beim Ursprung des Worts nehmen

Wenn aber Lohnarbeit immer die Ausnahme war und auch in unseren Breitengraden wieder zu werden droht, warum sollen dann Frauen und alle andern Menschen, die der Norm nicht mehr entsprechen, in ein Rentensystem gepresst werden, das gar nie für sie geschaffen wurde?

Was ist denn eigentlich eine Rente? Ein Einkommen ohne aktuelle Gegenleistung, etwa als Rendite aus investiertem Kapital. Ursprünglich war die Rente eine Abgeltung an den Grundeigentümer für die Nutzung seines Bodens, also etwa die bäuerliche Abgabe des Zehnten an den Feudalherrn, dem der von ihnen bebaute Boden aus welchen Gründen auch immer gehörte.

Und jetzt wird es spannend. Es war also schon mindestens seit der Agrarrevolution, also weit bis zu zehntausend Jahre so, dass einige Menschen von allen andern Abgaben für die Nutzung von etwas entrichten musste, das bei genauer Betrachtung eigentlich gar nicht Eigentum einer bestimmten Person sein kann. Für viele ist es heute selbstverständlich, sich gegen die Privatisierung von Trinkwasser zu wehren. Denn Trinkwasser ist für alle Menschen gleichermassen lebensnotwendig und es ist begrenzt vorhanden. Warum nur wehrt sich denn niemand gegen die Privatisierung von Boden, von Teilen der Erdoberfläche mit allem, was sich darunter und darüber befindet? Auch die Nutzung von Boden ist doch für uns alle gleichermassen lebensnotwendig!


Existenzsicherung: bedingungslos, mit Grund finanziert

Wenn wir geboren werden, kommen wir in eine Welt, auf der alles vorhanden ist, was wir zum Leben brauchen. Und die Zivilisation hat diesem natürlichen Reichtum, den sie allerdings bedroht, einen gesellschaftlich geschaffenen Reichtum zur Seite gestellt. Warum sollen einige mehr von diesem Reichtum bekommen, weil sie Glück bei ihrer Geburt hatten? Warum sollen einige im Lauf ihres Lebens mehr davon für sich zusammenraffen dürfen, nur weil sie mehr Glück oder weniger Skrupel hatten?

Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) kommt diesen Fragen ein Stücklein weit entgegen, indem sie verspricht, einen kleinen Teil des gesellschaftlich geschaffenen Reichtums gleichermassen unter alle zu verteilen. Das BGE ist freilich keine Rente im Sinne der beitragsgestützten Sozialversicherung, sondern eine politisch ausgehandelte Zahlung, die eben darum in der Realität kaum je zur Existenzsicherung taugen wird; das aktuelle Beispiel meines Wohnlands Italien zeigt es deutlich: Die schillernde Bewegung «Cinque Stelle» ist 2018 nicht zuletzt mit dem Versprechen eines «Bürgereinkommens» zur stärksten Kraft im Parlament geworden; das Resultat nach zähem Ringen wird bestenfalls ein befristetes Arbeitslosengeld sein. Das verbessert die soziale Lage der Frauen zuallerletzt.

Anstatt Frauen und alle andern Benachteiligte in ein überholtes Rentensystem zu pressen – und zwar systemfremd, da mangels Lohn nicht auf der Basis von Beiträgen, also zu einem dem BGE ähnlichen rein politischen Preis – wäre es klüger, dass wir uns zu überlegen beginnen, wie alle Menschen die Rente bekommen, die täglich vor unseren Augen liegt. 


Weil die Erde allen und niemand gehört

Stell Dir vor, niemand kann mehr ein Stück Erde als sein Eigentum behaupten. Die Erde gehört allen Menschen, also niemandem privat. Stell Dir weiter vor, jeder Mensch erhält mit der Geburt und bis zu seinem Tod das unentgeltliche und unverlierbare Recht auf die Nutzung eines gleichwertigen Anteils der Erde. Wer mehr braucht, als den Teil, der ihm unentgeltlich zusteht, kann weitere Teile hinzumieten, wer weniger braucht, kriegt – genau: ein echtes Grundeinkommen, bezahlt aus dem Erlös der Fremdnutzung seines Nutzungsrechts auf Grund. 

Das wäre kein politischer Preis mehr, der – wie aktuell in Italien – auf dem Buckel und zu Ungunsten jener ausgehandelt wird, die’s am nötigsten haben, sondern ein Preis, der sich auf dem Markt bildet und jenen zugute kommt, die weniger verbrauchen, zum Beispiel, weil sie sich in Kollektiven organisieren. Wir bräuchten nicht mehr über Kinderzulagen, Familienbeihilfen oder Altersrenten zu politisieren, und vor allem: Endlich wären alle Frauen ökonomisch unabhängig und sozial gleichgestellt.

Dass Frauen und alle andern heute Benachteiligten durch die blosse Vision eines Systemwechsels nicht besser gestellt werden und dass sie zunächst einmal Besserstellung im Bestehenden brauchen, ist klar. Es darf dabei nur das Ziel nicht aus den Augen verloren werden vor lauter Sozialpolitikhuberei: Gut gehen soll es allen Menschen, nicht nur jenen, die ins System passen.

PS:
Wie bei jeder gesellschaftlichen Transformation stellen sich viele Fragen zur Gestaltung des Modells und des fairen Übergangs dorthin. Diese Fragen können nicht Gegenstand dieser Kolumne sein, die vorerst nichts anders will, als ein überholtes Konzept gedanklich aufzubrechen. Wer sich für die hier ausgeklammerten Fragen interessiert, findet einiges dazu hier: https://blog.billo.ch/?p=4398


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