
Es gibt in deutschen Regierungen eine fatale Tradition, Kriege herbeizubegründen. «Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!» – ein Grund lässt sich immer konstruieren. So auch 1999 für die völkerrechtswidrigen Luftangriffe der NATO auf Serbien. Und heute?
Jamie Shea, 1999 Sprecher der NATO, lobte gegenüber der ARD im Jahr 2001 [1] die wichtige Rolle der deutschen Regierung, namentlich von Bundeskanzler Schröder, Verteidigungsminister Scharping (beide SPD) und Aussenminister Fischer (Grüne) bei der Bearbeitung der öffentlichen Meinung gegen Kritik am Einsatz der Bundeswehr gegen Serbien. Wäre die Meinung in Deutschland gekippt, so Shea, so wäre das in anderen NATO-Ländern ebenfalls passiert.
2001 war die ARD noch nicht ganz auf Linie. Ein kritischer Report [1] zeichnete damals nach, wie insbesondere Scharping tatsächliche oder erfundene Ereignisse vor den Medien so lange verdrehte und dramatisierte, bis sie als Grund für den Krieg gegen Serbien auszureichen schienen. Im Film kommen allerdings Zeugen vor Ort zum Wort, unter ihnen ein deutscher General und eine US-amerikanische Diplomatin, beide damals Angehörige der Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Kosovo; sie alle widersprechen den Behauptungen von Scharping (Schröder kommt im Film nur am Rande vor, Fischer wird ganz verschont, obwohl Scharping sich ausdrücklich auf ihn als Quelle beruft). Von einer humanitären Katastrophe oder gar einem Völkermord habe vor dem NATO-Angriff keine Rede sein können, sondern von einem Bürgerkrieg, den die kosovarische Befreiungsarmee UCK provoziert habe. Die grossen Zerstörungen und Flüchtlingsströme seien erst nach der Bombardierung durch die NATO festzustellen gewesen.
Fragen, aber vor allem Behauptungen wirken bis heute nach
Kurz bevor die NATO ihren Krieg gegen Serbien begann, war ich mit meinem Journalistenfreund Hanspeter Spörri auf Lanzarote in den Ferien. Erst seine Fragen begannen mich stutzig zu machen: Was hat die NATO dort überhaupt zu suchen? Ohne UNO-Mandat? Was stimmt überhaupt an den Vorwürfen an die Adresse von Serbien und seines Präsidenten Milosevic? Die Fragen bleiben bis heute, aber noch stärker ist die Nachwirkung der damals unter aktiver Beteiligung der deutschen Regierung verbreiteten Falschnachrichten, was sich etwa 2019 im öffentlichen Aufruhr gegen die Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke [2] zeigte, dessen differenzierte Haltung zu den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien bequemerweise schon länger als Freundschaft mit Milosevic abgetan worden war.
Der Angriff auf Serbien 1999 war ein Wendepunkt in der Geschichte der NATO wie auf der Bundeswehr: erstmals griff das westliche Verteidigungsbündnis ein anderes Land an, und erstmals seit 1945 waren deutsche Soldaten im Ausland im Einsatz. Den Boden dafür hatte bereits 1993 der US Präsident Clinton in seiner Rede zum Amtsantritt gelegt. Für die USA und damit für die von ihr geführte NATO galt fortan: «Mit der UNO, wenn möglich, ohne UNO, wenn nötig». Der Westen hatte seinen Feind im Osten verloren, die NATO war arbeitslos geworden, neue Feinde mussten her. Und Deutschland marschierte mit. Ab 2002 waren deutsche Truppen in Afghanistan im Einsatz, wieder mit einem zügigen Slogan als Begründung; bekanntlich verteidigten sie die Freiheit am Hindukusch. Beim NATO-Krieg gegen den Irak mochte die Regierung Schröder zwar nicht mittun, selbst dann nicht, wenn die UNO ein Mandat beschlösse. 2011 hielt die Regierung Merkel (CDU) daran fest, sich nicht am NATO-Krieg gegen Libyen zu beteiligen, stellte aber Flugplätze zur Verfügung und mehr Soldaten in Afghanistan zur Entlastung dortiger NATO-Truppen.
Nach einer Phase deutscher Selbstbeschränkung spielen die Regierenden in Berlin wieder mit Krieg, zusammen mit ihrer ehemaligen «christlichen» Verteidigungsministerin, die den Vorsitz der EU-Kommission führt, um nicht zu sagen: missbraucht. Egal, welche Partei grad in Berlin die Macht von interessierten Kreisen geliehen hat, alle sind sie auf die Vorbereitung eines Kriegs gebürstet, den sie geflissentlich herbeipropagieren. Die Geschichte zeigt, dass wir ihnen nicht vertrauen sollten.
Was wäre ein neutrales Deutschland für ein Segen für die Deutschen, für Europa, für die Welt! Zu schade, dass Moskau 1990 der Wiedervereinigung Deutschlands zugestimmt hat, ohne dessen Neutralität einzufordern…
Diskussion auf Facebook
Hanspeter:Ich frage mich aber schon, lieber Billo, was damals passiert wäre, wenn die NATO diese Luftangriffe gegen Serbien nicht gemacht hätte.
Eric: Hanspeter, berechtigte Frage! Und Billo, das UNOMandat im Balkan gab es, doch diese schwach ausgerüsteten Truppen konnten nicht eingreifen. Clinton wollte die Schande von Sarajevo nicht wiederholen.
Zudem frage ich mich, ob es Afghanistan wert war. UNO Mandat ja, Bin Laden nicht zuhause, also 20 Jahre Besetzung und jetzt?
Billo:Damals warst du skeptisch, Hanspeter, ob die NATO diese Angriffe überhaupt durchführen darf/soll, und genau du hattest mich dadurch zum Nachdenken darüber gebracht, Hanspeter. Wir können nicht wissen, wie sich die Lage für die Menschen im Kosovo und in Serbien ohne NATO-Krieg entwickelt hätte; dass sie ähnlich grosse physische, soziale und politische Zerstörungen hätten erleiden müssen, darf zumindest bezweifelt werden. Und vor allem wäre der langfristige weltpolitische Schaden, den diese völkerrechtswidrige Aktion angerichtet hat, gar nicht entstanden.
Hanspeter: Die Schäden durch die NATO-Bomben waren minim, verglichen mit den Zerstörungen, die im Zuge der Vertreibungen angerichtet worden waren. Ich war kurz danach da. Das völkerrechtliche Präjudiz, da hast Du recht: Es hat später auch Putin zu seinen Übergriffen schein-legitimiert. Es ist kompliziert…
Billo:Ich halte Interventionen grundsätzlich für ein Verbrechen, solange sie nicht durch ein UNO-Mandat beschlossen sind, das partikuläre Interessen von Staaten neutralisieren könnte.
Billo: Aric, du meinst wohl die UNO-Resolution 1244 vom 10. Juni 1999, die zu Schaffung der UNO-Mission für die Übergangsverwaltung im Kosovo (UNMIK) führte – der Krieg der NATO gegen Serbien begann allerdings zweieinhalb Monate davor!
Was die UNO-Resolution 1368 vom 12.09.2001 zur völkerrechtliche Legitimierung der von den USA geführten Militärkoalition betrifft, wissen wir ja, mit welchen Lügen rund um 9/11 die USA dafür Propaganda gemacht hat – und ja: was danach folgte, war es wirklich nicht wert.
Quellen:
[1] WDR/ARD Extra (2001): Deutschlands Weg in den Kosovo-Krieg – Es begann mit einer Lüge
[2] Billo (2020): Serbien oder was Handke nicht gesagt ha
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