
Die vermutliche zweitälteste Demokratie – die älteste ist bei weitem nicht, wie oft behauptet, jene der doch recht jungen USA mit ihren seltsamen Strukturen, sondern die mehr als tausendjährige in Island –, also die vielgelobte «direkte» Demokratie der Schweiz zeigt in jüngster Zeit Schwächen. Die Covid-Krise wurde von einer weitgehend eigenmächtigen Landesregierung gemanaged, und in der Folge gefällt sich ein rechtsnationaler Inhaber des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation darin, vor allem per Verordnungen zu regieren. Das tun andere Regierungen in sogenannt demokratischen Ländern schon länger, ich beobachte dies vor Ort in meiner neuen Heimat Italien; für die Schweiz ist das eher neu. Glaubte ich, bis zu einer Recherche der WoZ [1] über das Verhalten von Armeespitze und Landesregierung im Zweiten Weltkrieg, die bei einem Angriff die Bevölkerung schutzlos zurückgelassen hätten.
Wir müssen über Demokratie reden.
Mein Vater, ein bürgerlich-liberaler Direktor eines Industriebetriebs und Major der Schweizer Armee, hatte mir in meiner Jugend oft von der entschlossenen militärischen Verteidigungsbereitschaft des Landes im zweiten Weltkrieg erzählt. Nach seiner Darstellung war die Idee eines Réduit in den Alpen eine geniale Idee der Schweizer Generalität, einen Kern des Territoriums um jeden Preis zu halten, sollte die deutsche Armee die Schweiz angreifen. Ziel war es, im Krieg als Land nicht ganz unterzugehen, um nach Kriegsende wieder das gesamte Territorium beanspruchen zu können. Das klang irgendwie logisch, jedenfalls hatte ich nie wirklich hinterfragt, was denn mit den Menschen im preisgegebenen Flachland bei einem Angriff geschehen wäre. Ich war erst nach dem Krieg geboren und an friedliche Verhältnisse gewohnt.
Demokratisch gewählte Führung lässt Bevölkerung im Stich
De reichhaltige Buchstabensuppe, die mir WoZ [1] diesen Monat in zwei Teilen serviert hat, ist schwer verdaulich. Nicht, dass ich die halb parlamentarische, halb direkte Schweizer Demokratie bisher für das Optimum möglicher Gesellschaftsformen gehalten hätte; Zweifel hatte ich schon als Jungsozialist angesichts der oft wiederholten Feststellung, dass ein zahlenmässig kleines Besitzbürgertum seine Interessen fast immer gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen verstand, und die Zweifel mehrten sich in den letzten dreizehn Jahren, in denen ich die Schweiz vom Ausland aus beobachte. Doch verglichen mit der Politik in Italien und anderen Ländern schien mir das Geschehen in der Schweiz doch immer noch etwas weniger abgehoben von den Menschen zu sein.
General Guisan, der Oberbefehlshaber der Schweizer im Zweiten Weltkrieg, wurde nach seinem Tod im Jahr 1960 als schöne nationale Leich gefeiert; als 23-jähriger verfolgte ich den grossen Trauerzug und die vielen Lobreden am Radio, davon überzeugt, dass ein Grosser von uns gegangen sei, der die Schweiz vor Schlimmeren bewahrt habe. In den 1990er Jahren bekam das heile Bild deutliche Kratzer, nachdem ein US-Senator (wohl zwecks Eigenpropaganda) die Schweiz zur Aufarbeitung ihrer Rolle im zweiten Weltkrieg zwang; der daraufhin von Historikern unter der Führung von Jean-François Bergier erarbeitete Bericht brachte die Gemüter der Aktivdienst-Generation in Wallung und mich in Opposition zu den Beteuerungen meines Vaters. Natürlich wollte ich mehr von ihm erfahren, aus Neugier und nicht als Vorwurf, gerade von ihm, der während des Kriegs im Generalstab gedient hatte und wohl vieles wusste; leider war er schon zu krank und nicht mehr fähig zu längeren Diskursen. Das Geschehen blieb für mich daher weiter Verschlusssache.
Wie nun aus den Artikeln in der WoZ hervorgeht, waren die Führungen der Armee und des Landes damals entschlossen, drei Viertel der Bevölkerung bei einem Angriff im Stich zu lassen, ja, sie sogar mit militärischer Gewalt daran zu hindern, in das vorbereitete Rückzugsgebiet der Armee in den Alpen zu fliehen. Der eigentliche Zweck der Armee, die Bevölkerung zu verteidigen, wäre kaltschnäuzig aufgegeben worden für die Wahnidee, ein schwer einzunehmendes Reststück des Territoriums um jeden Preis zu halten. In Zeiten vor der Atombombe mochte das einigen Militärköpfen ja sinnvoll erschienen sein; aber die Schweizer Regierung hatte diese Opferstrategie widerstandslos abgenickt. Ironie der Geschichte: Das damalige Eidgenössische Militärdepartement (EMD) heisst heute Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS); ob die Namensänderung für den Schutz der Bevölkerung garantiert, bleibt durchaus offen.
Systemfehler westlicher Demokratien beheben
Der Demokratie westlicher Prägung ist die Tendenz zur Verselbständigung der gewählten Vertreter und der von ihnen gewählten Regierenden eigen – eine Tendenz, die noch an Stärke gewinnt, wenn die Staatsspitze direkt vom Volk, das heisst von den reichsten Propagandisten gewählt wird, siehe etwa USA, Frankreich und bald einmal – ich hoffe nicht! – Italien. Es stimmt etwas nicht an den Grundlagen dieser demokratischen Systeme, was ja schon 1933 in Deutschland deutlich geworden war. Demokratie ist in diesem Verständnis nicht die Herrschaft des Volkes durch das Volk für das Volk (das behaupten nur Populisten, um an die Macht zu gelangen), sondern die plebiszitäre Legitimierung der Herrschaft über das Volk. Einst von unten aufgebaute Strukturen zum Schutz des gemeinsamen Wohls wie etwa Krankenkassen sind längst zu Instrumenten der Verwaltung von oben herab umfunktioniert worden.
Als direkt Betroffener müsste ich eigentlich mitentscheiden können, und wo dies nur mittels Vertretern möglich ist, müsste ich wenigstens die Möglichkeit haben, Vertreter jederzeit abzuwählen, wenn sie gegen meine Interessen handeln, anstatt dass sie sich als Berufspolitiker von Legislatur zu Legislatur hangeln und dabei am Ende genau das verursachen, was heute die missliche Lage Europas ist.
Es gäbe einen effizienten Weg, ohne teure populistische Wahlkämpfe für eine repräsentative Zusammensetzung der politischen Entscheidungsgremien und damit für deren «Volksnähe» zu sorgen. Das lokale Parlament wird durch das Los aus allen Einwohnern besetzt, mit gestaffelter, einmaliger Amtsdauer von sagen wir fünf Jahren. Die lokalen Parlamente wählen aus ihrer Mitte die Vertreter im regionalen Parlament, die regionalen Parlamente aus ihrer Mitte die Vertreter im nationalen, und so weiter, sozusagen ein Rätesystem auf Zufallsbasis. So zusammengesetzte Parlamente und die von ihnen gewählten Regierungen würden kaum die Bevölkerung schutzlos preisgeben, weder einem Krieg noch den Privatinteressen von Reichen.
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Peter 1: Erfunden wurde die Demokratie von den Griechen !
Billo: … ohne Frauen, Besitzlose und Sklaven, Peter – und im Gegensatz zur längst untergegangenen Athener Demokratie hat jene in Island seit 930 nie zu bestehen aufgehört. Aber darum geht es hier ja nur am Rande.
Phil: Bei Covid hatten unsere Behörden und deren Massnahmen meine volle Unterstützung. Niemand hatte Erfahrungen mit Pandemien. Auch wenns vereinzelt unter dem damaligen Wissensstand Fehler und behördliche Überreaktionen gab, kam die Schweiz mit einem blauen Auge davon.
Was mich aber beunruhigt, ist der schleichende Abbau unserer Demokratie auf dem Verordnungsweg. Und fehlende Einsicht. Als Beispiele führe ich hier die fehlgeleitete, neu lancierte AKW-Diskussion auf. Völlig unnötig, das bremst nur den Ausbau der Nachhaltigen.
Oder das Beharren auf der Beschaffung der F35.
Oder eben die Bücklingshaltung gegenüber den USA.
Oder die Geschichte mit „der Bund gegen Tempo 30“. Kaum die Abstimmung verloren, wird erneut der Autobahnausbau forciert.
Fünf willkürliche Beispiele stellvertretend für viele andere.
Billo: Phil, ich war zu Beginn der Pandemie auch einverstanden damit, dass die Behörden rasch Massnahmen verordneten. Doch je länger die Pandemie anhielt, desto skeptischer wurde ich, nicht so sehr bezüglich der Massnahmen, sondern vor allem wegen deren problematischen demokratischen Verankerung. Man kann über Wissenschaft nicht abstimmen, das muss die schon unter sich tun (leider war die innerwissenschaftliche Debatte bezüglich Covid und empfohlenen Massnahmen nicht dauber geführt); aber die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse bedarf eines demokratisch abgestützten Konsenses, besonders dann, wenn die Anwendung zwingend für jedermann erklärt werden soll. In der Schweiz gab es dank Initiativrecht zwar Volksabstimmungen, doch aus Verfahrensgründen spät; was fehlte, waren Beschlüsse des praktisch lahmgelegten Parlaments. In der Schweiz wie überall wurden die Eingriffe ins tägliche Leben durch Verordnungen der Regierungen diktiert, ein gefährliches Tor für autoritäres Regieren.
Peter 2: Aber Lincoln meinte das Zitat wohl doch ernst nach dem Schock in Gettysburg.
Das im blog erwähnte of the people, by the people and for the people stammt ja von Lincoln.
Und Sanders zitiert den Satz oft und sagt antithetisch, not of the billionaires, by the billionaires and for the billionaires, wie jetzt die USA seien. Und er verweist auf korrupte das Finanzierungssystem der Parteien als Grundübel.
Wenn das intransparent ist, würde auch ein Lossystem innert Kürze korrumpieren, befürchte ich. Das war zwar beim Reduit zugegebenermassen nicht der Fall…
Billo: Am Lossystem arbeite ich noch, Peter; es braucht natürlich flankierende Massnahmen, damit das Rätesystem nicht von oben herab durch interessierte Kreise plattgemacht wird wie damals die Sowjets durch die Bolschewiki.
[1] WoZ, 20.11.2025: Im Réduit-Staat: Gegen die Zivilbevölkerung
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